Eine vorweihnachtliche Geschichte
Martin Schmid (TW 034) hat uns eine frei erfundene Geschichte aus
Deutschland zukommen lassen. Sein Kommentar: "Da hat jemand noch nicht kapiert, dass
das Stromnetz ein Netz ist, wo mehrere Kraftwerke dranhängen... Aber die Gedankenfolge
ist grundsätzlich positiv."
Sonntag, 1. Advent 10.00 Uhr. In der Reihenhaussiedlung
Önkelstieg lässt sich die Rentnerin Erna B. durch ihren Enkel Norbert
3 Elektrokerzen auf der Fensterbank ihres Wohnzimmers installieren. Vorweihnachtliche
Stimmung breitet sich aus, die Freude ist gross.
10 Uhr 14: Beim Entleeren des Mülleimers beobachtet
Nachbar Ottfried P. die provokante Weihnachtsoffensive im Nebenhaus und kontert
umgehend mit der Aufstellung des 10-armigen dänischen Kerzensets zu je 15 Watt im
Küchenfenster. Stunden später erstrahlt die gesamte Siedlung Önkelstieg im besinnlichen
Glanz von 134 Fensterdekorationen.
19 Uhr 03: Im 14 km entfernten Kohlekraftwerk
Sottrup-Häcklage registriert der wachhabende Ingenieur irrtümlich einen Defekt der
Strommessgeräte für den Bereich Stenkelfeld-Nord, ist aber zunächst arglos.
20 Uhr 17: Den Eheleuten Horst und Heidi E.
gelingt der Anschluss einer Kettenschaltung von 96 Halogen-Filmleuchten, durch
sämtliche Bäume ihres Obstgartens, ans Drehstromnetz. Teile der heimischen Vogelwelt
beginnen verwirrt mit dem Nestbau.
20 Uhr 56: Der Discothekenbesitzer Alfons K. sieht
sich genötigt seinerseits einen Teil zur vorweihnachtlichen Stimmung beizutragen und
montiert auf dem Flachdach seines Bungalows das Laserensemble Metropolis, das zu den
leistungsstärksten Europas zählt. Die 40 m-Fassade eines angrenzenden Getreidesilos
hält dem Dauerfeuer der Nikolausprojektion mehrere Minuten stand, bevor sie mit einem
hässlichen Geräusch zerbröckelt.
21 Uhr 30: Im Trubel einer Jule-Club-Feier im
Kohlekraftwerk Sottrup-Häcklage verhallt das Alarmsignal aus Generatorhalle 5.
21 Uhr 50: Der 85-jährige Kriegsveteran August R.
zaubert mit 190 Flakscheinwerfern des Typs Varta Volkssturm den Stern von
Bethlehem an die tiefhängende Wolkendecke.
22 Uhr 12: Eine Gruppe asiatischer Geschäftsleute mit
leichtem Gepäck und sommerlicher Bekleidung irrt verängstigt durch die Siedlung
Önkelstieg. Zuvor war eine Boeing 747 der Singapur Airlines mit dem Ziel Sidney
versehentlich in der mit 3000 bunten Neonröhren gepflasterten Garagenzufahrt der
Bäckerei Brührmeyer gelandet.
22 Uhr 37: Die NASA-Raumsonde Voyager 7 funkt vom
Rande der Milchstrasse Bilder einer angeblichen Supernova auf der nördlichen
Erdhalbkugel, die Experten in Houston sind ratlos.
22 Uhr 50: Ein leichtes Beben erschüttert die Umgebung
des Kohlekraftwerks Sottrup-Häcklage, der gesamte Komplex mit seinen 30 Turbinen
läuft mit 350 Megawatt brüllend jenseits der Belastungsgrenze.
23 Uhr 06: In der taghell erleuchteten Siedlung
Önkelstieg erwacht Studentin Bettina U. und freut sich irrtümlich über den
sonnigen Dezembermorgen. Um genau 23 Uhr 12 betätigt sie den Schalter ihrer
Kaffeemaschine.
23 Uhr 12 und 14 Sekunden: In die plötzliche
Dunkelheit des gesamten Landkreises Stenkelfeld bricht die Explosion des Kohlekraftwerks
Sottrup-Häcklage wie Donnerhall. Durch die stockfinsteren Ortschaften irren verwirrte
Menschen, Menschen wie du und ich, denen eine Kerze auf dem Adventskranz nicht genug war.
In diesem Sinne: Frohe Adventszeit!